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Rosa Luxemburg: Eine Lanze für die Wissenschaft!

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Rosa Luxemburg: Eine Lanze für die Wissenschaft!Rosa Luxemburg gibt bis heute viele Rätsel auf; die richtige Schreibweise des Namens oder das exakte Geburtsdatum fallen dabei noch am geringsten ins Gewicht.

Beim Geburtsdatum gibt es die Übereinkunft, den 5. März 1871 (wenige Wochen nach der Gründung des deutsch-preußischen Kaiserreichs und keine drei Wochen vor Ausrufung der Pariser Kommune) anzunehmen.

Beim Todestag haben es die Historiker deutlich einfacher, da es sich ja um einen nahezu öffentlich ausgeführten Mord gehandelt hat; auch wenn forensisch etwas ungenau: irgendwann in der Nacht vom 15. auf den 16. Januar 1919, wohl kurz nach Mitternacht. (1) Gefunden wurde ihr Leichnam dann erst (zufälligerweise) am 31. Mai 1919 – grausam entstellt. Ein Leben, das keine achtundvierzig Jahre gedauert hat, dafür aber vollgepackt mit Aufgaben und Hindernissen, die einem antiken Herkules oder einem biblischen Hiob nicht einfacher gefallen wären. (2)

I) Einleitung

Der folgende Beitrag soll jedoch bewusst nicht das gesamte Leben dieser facettenreichen Frau behandeln, was schon aus Platzgründen nahezu unmöglich scheint, sondern lediglich einen ganz bestimmten Teilbereich: Luxemburgs ökonomische Arbeiten, insbesondere das Werk „Die Akkumulation des Kapitals – Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“ aus dem Jahr 1913; besonders der Untertitel „zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“ verdient auch 110 Jahre später angesichts der weltweiten Kriege bzw. eklatanten Kriegsgefahren besondere Aufmerksamkeit.

Wenn man so will, besitzt Luxemburgs Intention (ja, ihre gesamte intellektuelle Ausrichtung) eine Allgemeingültigkeit, die bis heute nichts an Bedeutung verloren hat. (3)

Sollte es darüber hinaus gelingen, bei den Lesern ein generelles Interesse (und Neugier) für diese besondere Person zu wecken, wären die Ziele nebst Motivation des Autors übererfüllt (und dies gilt vor allem für einen „Nicht-Marxisten“)!

Aus der bis heute immer noch wichtigsten Luxemburg-Biografie soll folgendes zur Einleitung ausgeführt werden:

„Den Namen Rosa Luxemburg kennen viele, aber die Assoziationen, die er weckt, sind vage, eine Deutsche, Jüdin und Revolutionärin – weiter reicht es nicht. Wer etwas von der Geschichte des Sozialismus weiß, sieht sie in schärferen Konturen: als Wortführerin und Theoretikerin der deutschen Linken und als Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands. Zweierlei fällt offenbar besonders ins Auge: ihr Tod, der ein etwas sentimentales Interesse für die von brutaler Soldateska ermordete Revolutionärin erregt, und ihre Streitigkeiten mit Lenin, in denen sie als Fürsprecherin der Demokratie gegen den russischen Kommunismus erscheint. (…) Für viele oberflächliche Leser im Westen ist Rosa Luxemburg so zur energischsten Verteidigerin der demokratischen Tradition im Marxismus gegen ihren Mißbrauch durch die Bolschewiki geworden. Soweit der revolutionäre Marxismus demokratisch ist, verkörpert sie ihn am reinsten.“  (4)

Dieser kurze Ausschnitt dürfte genügen, die Komplexität Rosa Luxemburgs anzudeuten; beschränkt man sich, wie hier beabsichtigt, auf die wirtschaftstheoretischen Aspekte im Werk Luxemburgs, müssen die wichtigsten „Highlights“ in ihrer Laufbahn betrachtet werden. 

Will man sich demnach bewusst mit Luxemburgs wissenschaftlichem Werk beschäftigen, scheint ihr eigenes Motto bzw. Credo am besten geeignet, in ihre akademische Laufbahn einzusteigen:
„Enthusiasmus, gepaart mit kritischem Sinn – was können wir uns mehr wünschen?“ (5)

II) Die Anfänge als Wirtschaftstheoretikerin

Besuch des Parteivorstandes im Jahr 1907 bei der Parteischule der SPD. Dozentin Rosa Luxemburg (stehend vierte von links). August Bebel (stehend fünfter von links), Friedrich Ebert (links in der 3. Bank der rechten Bankreihe)

Besuch des Parteivorstandes im Jahr 1907 bei der Parteischule der SPD. Dozentin Rosa Luxemburg (stehend vierte von links). August Bebel (stehend fünfter von links), Friedrich Ebert (links in der 3. Bank der rechten Bankreihe)

 

Bei Luxemburg lassen sich persönliche Entwicklungen nicht ohne Weiteres von beruflichen Fortschritten und Erfolgen (oder auch Rückschlägen) trennen; ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich, versucht man ihre rein politischen Ansichten und Parolen von ihrem geistigen Schaffen zu sondieren.

Da sie bereits als junge Frau mit grundsätzlichen Ideen des Sozialismus bzw. wissenschaftlichen Marxismus in Berührung gekommen war, gleichzeitig in dem Teil Polens lebte, der unter den Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts am stärksten zu leiden hatte, nämlich in dem von Russland besetzten/annektierten sog. „Kongress-Polen“, war ihre Sozialisation Mitte/Ende der 1880er Jahre in eine ganz bestimmte Richtung geprägt.

Also bestätigte sich (zumindest in gewisser Weise) auch in ihrer Person der „junghegelianische“ Glaubenssatz: »Das Sein bestimmt das Bewusstsein«. 

Daher lässt sich erst recht mit guten Gründen der Frage nachgehen, ob Rosa Luxemburgs Ideen und Vorstellungen heute immer noch oder überhaupt noch aktuell sind – auch vor dem Hintergrund der jüngsten Verschiebungen (oder Auflösungstendenzen?) im „linken Spektrum“ der bundesdeutschen Parteienlandschaft.

Als sie mit knapp achtzehn Jahren zum Studieren nach Zürich ging, seinerzeit besonders liberal und weltoffen, bewegte sich Luxemburg zumindest in einem der progressivsten Teile des europäischen Kontinents. Die Distanz zur räumlichen Provinzialität ihrer überwiegend ländlich geprägten Heimat tat ihr sichtbar gut, ihr Studienschwerpunkt „Staatswissenschaft“ war breit gefächert und umfasste u.a. Staats- und Völkerrecht und besonders Volkswirtschaftslehre, die besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr populär wurde.

Trotzdem kam sie natürlich auch in der Schweiz nicht von ihren polnischen Wurzeln los; als sich 1892 auch im russisch besetzten Sektor Polens die Angehörigen der Arbeiterschaft ihrer gesellschaftlichen Bedeutung bewusst wurden und eine politische Kraft des Proletariats (ähnlich wie im preußisch und österreichisch besetzten Teil Polens) gründeten, nahm auch Rosa Luxemburg hieran regen Anteil.

Jedoch machten sich bereits sehr schnell große ideologische Unterschiede zwischen den „neuen“ Parteiführern der PPS (polnische sozialist. Partei), die maßgeblich von den deutschen Sozialdemokraten beeinflusst worden waren, und anderen linkssozialistischen Kräften bemerkbar.

Diese kreisten besonders um die Frage nach einer schnellen Unabhängigkeit nebst Gründung eines polnischen (Gesamt-)Staates.

Hierzu vertrat Rosa Luxemburg eine unzweideutige Meinung, die ihr lange Zeit großen Streit und Abneigung im sozialdemokratischen Lager einbrachte: Sie war von Anfang an eine Gegnerin eines polnischen Nationalstaates (zumindest wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmten). Dagegen wollte die überwiegende Mehrheit der deutschen und polnischen Sozialdemokraten einen polnischen Nationalstaat – fast um jeden Preis (besonders mit der machtpolitischen Stoßrichtung gegen das zaristische Russland).

Schon im Juli 1893 gründete Rosa Luxemburg mit anderen Weggefährten eine Pariser Exilzeitung, worin sie gegen das PPS-Programm, aber für eine kompromisslos „internationalistische Ausrichtung“ eintrat.

Es ging – vereinfacht gesagt – nicht bloß um das Abschütteln der russischen Fremdherrschaft (so schmerzlich diese auch in der Realität gewesen ist), sondern um den Gesamtkomplex der Errichtung sozialistischer Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen, wodurch der Kapitalismus (und nebenbei auch die Monarchien) bzw. die Ausbeutung des Proletariats überwunden worden wären.

Ganz besonders im Falle ihrer Heimat hatten Luxemburg und ihre engsten Vertrauten die These entwickelt, wonach Polens drei Teile ökonomisch mittlerweile so stark in die Märkte der Besatzerstaaten (Russland, Österreich u. Deutsch-Preußen) integriert worden seien, dass eine Wiederherstellung eines unabhängigen polnischen Nationalstaats ein anachronistischer Rückschritt gewesen wäre.

Der Gruppe um Luxemburg stand ein gesamteuropäischer Ansatz vor Augen; nationalstaatliche Sonder-wege oder „Extratouren“ wurden eher als kontraproduktiv eingeschätzt.

Hieraus zog auch Rosa Luxemburg selbst zwei Konsequenzen: Sie und ihre Mitstreiter um die betr. Exil-zeitung „Sprawa Robotnicza“ gründeten bereits im Spätsommer 1893 die Partei „Sozialdemokratie des Königreiches Polen“ (SDKP) und sie hatte gleichzeitig ein Promotionsthema für ihre anstehende Doktorarbeit: »Die industrielle Entwicklung Polens«.

Damit setzte sie auch den ersten Schritt auf dem Weg ihrer eigenen Karriere als Ökonomin und politische Denkerin.

Mit streng empirischen Methoden versuchte Luxemburg in ihrer Dissertation nachzuweisen, dass Russisch-Polen seit 1846 in den russischen Kapitalmarkt derart eingebunden und sein Wirtschaftswachstum vollständig von diesem abhängig sei. Damit wollte sie ihre grundsätzliche Ansicht, die Wiederherstellung der nationalen Unabhängigkeit Polens sei illusorisch, mit ökonomischen Fakten untermauern und somit „dialektisch“ absichern. 

Die Grundlage für den Nachweis ihrer Thesen sah Rosa Luxemburg in der Analyse der konkreten Entwicklungstendenzen der polnischen bürgerlichen Gesellschaft (besonders des Teils, der seit den 1830er Jahren immer stärker russifiziert wurde). In diesem Zusammenhang schmiedete Rosa Luxemburg die theoretischen Waffen, die taktischen und prinzipiellen Argumente gegen die Verkoppelung der Arbeiterbewegung mit dem Nationalismus, die später nicht nur das Gemeingut der polnischen Kommunisten bildeten, sondern nach dem Weltkrieg auch die Grundlage der kommunistischen Opposition bei der Haltung zum Zusammenbruch der „Zweiten Internationale“ bilden sollte.

An dieser Stelle kann bei Luxemburgs Arbeit von einer induktiven Methodik gesprochen werden: vom Einzelnen (der polnischen Situation) auf das Allgemeine (der internationale Zusammenhang) bezogen; Luxemburg stellte ihre Überlegungen auf eine höhere Stufe der Entwicklung, vor der nämlich die internationale Arbeiterklasse Ende des 19. Jahrhunderts als „Lebensaufgabe“ stand: die Frage des Verhältnisses der Arbeiterklasse zum nationalen Staat.

Die Gegner Luxemburgs und ihrer Mitstreiter vertraten unumstößlich den Standpunkt, wonach politische Freiheit unmöglich ohne Aufhebung der nationalen Unterdrückung sei; nationale Bewegungen gekoppelt mit „sozialistischen“ Reformen.

Rosa Luxemburg zeigte zuerst durch ihre historische Untersuchung, dass, indem die kapitalistische Entwicklung die polnische Bourgeoisie mit der russischen vereinigt hatte, indem ein und derselbe Prozess der Kapitalisierung Russlands die wirtschaftlichen Interessen der polnischen wie der russischen Bourgeoisie befriedigte, die Klassen, die auf dem Boden der kapitalistischen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts standen, kein Interesse an der Bildung eines selbständigen polnischen Staates haben konnten.

Der kapitalistische Staat war für sie erwiesenermaßen die Organisation der Herrschaft der Bourgeoisie.

Insoweit stand Luxemburg auf dem Boden des orthodoxen Marxismus. Ihre Schlussfolgerung bestand darin:

Da sogar der feudalzaristische Staat der polnischen Bourgeoisie die Ausbeutung des polnischen Proletariats wie die imperialistische Expansion nach dem Osten ermögliche, konnte in der polnischen Bourgeoisie keine aufrichtige, ehrliche Bewegung für die Unabhängigkeit Polens entstehen.

Wenn das Proletariat die Unabhängigkeit Polens als Losung aufstellen wollte, so musste es nicht nur den Zarismus, sondern auch den Kapitalismus niederwerfen. (6)

Diesen Überlegungen lag die grundsätzliche Logik/Prämisse zugrunde, dass – falls die Arbeiterklasse Polens so stark sein würde, um ihren Willen nicht nur dem schon damals bankrotten Zarismus, sondern auch der sich erst entwickelnden jungen polnischen Bourgeoisie aufzudrängen -, so könnte diese nach ihrem Siege über das zaristisch-bourgeoise System auch direkt den Sozialismus einführen. (7)

Von heute total überholten Detailfragen abgesehen, ist bei Betrachtung bereits des Frühwerks von Rosa Luxemburg festzuhalten:

Sie setzte ihren kompromisslosen Kampf gegen den Nationalismus in der Arbeiterbewegung zeitlebens fort. Diese Haltung isolierte sie anfangs fast völlig und brachte ihr viele erbitterte Konflikte ein, unter anderem seit 1898 in der SPD und seit 1903 mit Lenin (was nur oberflächlich zu erstaunen scheint).

III) Die weitere Laufbahn der Rosa Luxemburg

„Rosa Luxemburg pflegte zu sagen, in den Sozialwissenschaften liege ihr eigentliches Talent auf dem Gebiet der Ökonomie, und zwar der mathematischen Ökonomie.“ (8)

Zum Glück für die Nachwelt bildete die Mathematik nicht den Schwerpunkt ihrer Arbeiten:

„Den einzigen Nachweis ihrer behaupteten mathematischen Begabung lieferte sie, indem sie Marxens nicht sehr komplizierte Formeln der erweiterten Reproduktion aus dem zweiten Band des Kapitals neu durchrechnete. Und diese ihre Berechnungen sind, wie sich ziemlich leicht zeigen läßt, nicht nur verfeinerungsfähig, sondern auch anfechtbar. Aber soviel ist wohl richtig, daß ihr Interesse am Problem der 

Akkumulation – aus dem dann ihr bemerkenswertes Buch „Die Akkumulation des Kapitals“ erwuchs – geweckt wurde durch die mathematischen Schwierigkeiten, auf die Marx bei dem Versuch stieß, seine Akkumulationstheorie zu »beweisen«, und die er ungelöst hinterließ.“ (9)

1897 beendete Luxemburg ihre Doktorarbeit, die im Jahr darauf auch veröffentlicht wurde.

1898 war auch für sie privat von einiger Bedeutung:

Um ihren künftigen Lebensmittelpunkt in dem Land zu begründen, das nach damaliger Ansicht die progressivsten Kräfte des wissenschaftlichen Sozialismus hervorgebracht hatte, ging Rosa Luxemburg eine Scheinehe ein, um somit nach Deutschland immigrieren zu können und damit auch den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft zu sichern (damals war diese an die des Ehemanns gebunden).

Kaum im Land von Marx und Engels angekommen, erfolgten die ersten Jobangebote! (10)

Das war allerdings auch nicht ganz verwunderlich, hatte sie doch bereits 1896 als Delegierte auf einem Kongress der „Zweiten Internationalen“ in London für einiges Aufsehen gesorgt, und im Anschluss an den Kongress für die „Sächsische Arbeiterzeitung“ einige Artikel veröffentlicht. Dabei konnte sie nicht nur ihre speziellen Thesen zu theoretischen, aber auch außenpolitischen Aspekten (wie die Auflösung des osmanischen Reiches) einem breiteren Publikum präsentieren, sondern wertvolle persönliche Kontakte knüpfen (zu Seidel, Parvus, aber auch zu Kautsky).

Nach ihrer offiziellen Übersiedlung nach Berlin (ab Mai 1898) konnte sie auch unmittelbar in die (deutsche) SPD eintreten, ihre Mitgliedschaft in der „Schwesterpartei“ SDKP durfte sie behalten.

Hauptgrund für die deutschen Genossen, Rosa Luxemburg aufzunehmen und auch gleich „einzuspannen“, war ihre Popularität unter den polnischen Arbeitern – denn in Deutsch-Schlesien wie auch im Ruhrgebiet waren viele der hart arbeitenden Männer (und teils auch schon Frauen) im Industriebereich „Kohle und Stahl“ (dem Rückgrat der „industriellen Revolution“ im Kaiserreich) polnischer Abstammung bzw. Nationalität.

Wie auch in den 1960er und 1970er Jahren in Westdeutschland, klappte das mit der Integration der „Gastarbeiter“ bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich nicht besonders. Allerdings hatte die polnische Minderheit im Kaiserreich nach 1871 einen großen Vorteil: Sofern im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft (meist vermittelt über die Vorschrift zum „Indigenat“ in Art. 3 der Reichsverfassung v. 1871), hatten auch die Angehörigen der polnischen Minderheit das Wahlrecht, durften also bei den Wahlen zum Reichstag mitstimmen.

Nach dem Auslaufen der „Bismarckschen Sozialistengesetze“ ab 1890 bildete dies ein großes Reservoir, das die Sozialdemokraten logischerweise für sich nutzen wollten – welche politischen Alternativen hatten denn die polnisch-stämmigen Arbeiter und ihre Familien ansonsten?

Nur das in weiten Teilen der ländlichen Regionen extrem konservative „Zentrum“, also der politische Katholizismus. Wobei nicht unterschlagen werden soll, dass gerade im Ruhrgebiet aus der katholischen Arbeiterbewegung heraus wichtige sozialpolitische Impulse gesetzt werden konnten.  

Aber mit Rosa Luxemburg hatte die SPD ab Ende der 1890er Jahre eine bekannte und bei der polnischen Minderheit durchaus beliebte „Galionsfigur“ – auch wenn ihre innerparteilichen Kritiker dies nicht gerne zugaben, dass die SPD bei den Reichstagswahlen nach 1900 in etlichen Wahlkreisen, die zuvor für das „Zentrum“ eine sichere Bank waren, Direktmandate erringen konnte, war auch mit ein Verdienst von Luxemburg. Dies sollte ihr dann später noch im beruflichen Umfeld, siehe unten, Vorteile bringen.

Auf ihre ab Herbst 1898 beginnende Karriere als Redakteurin und politische Journalistin kann hier nicht näher eingegangen werden, obwohl sie natürlich in ihren Artikeln und Berichten nicht nur tagespolitische Themen aufgriff, sondern oft auch Fragen zur Sozialreform aufwarf.

Genauso wenig können an dieser Stelle die rein politischen Entwicklungen Luxemburgs verfolgt werden, so z.B. als sie ihre erste Gefängnisstrafe kassierte (1904 wurde sie wegen „Majestätsbeleidigung“ verurteilt, nur weil sie Wilhelm Zwo Ahnungslosigkeit vorwarf – noch eine seiner geringsten kognitiven Defizite); auch ihre Teilnahme an den revolutionären Ereignissen im russisch besetzten Teil Polens 1905, als in Russland infolge der militärischen Niederlage gegen Japan die ersten Vorboten einer echten Revolution aufzogen und überraschenderweise das russische Proletariat den sonst leicht überheblichen westeuropäischen Genossen (und Genossinnen) zeigte, wie eine revolutionäre Massenbewegung entfacht werden kann, müssen hier unerwähnt bleiben (ebenso die „Gastfreundschaft“ im russischen Knast, die sie nach ihrer Verhaftung 1906 einige Zeit „genießen“ durfte).     

Nach Deutschland zurückgekehrt, hatte Rosa Luxemburg 1907 gleich zwei berufliche Erfolgserlebnisse (neben dem amourösen Verhältnis mit dem Sohn ihrer besten deutschen Freundin): Die Teilnahme am „Internationalen Sozialistenkongress“ im August 1907 in Stuttgart und einen Monat später ihre Berufung an die SPD-interne Parteischule in Berlin.

Diese Parteischule sollte nach dem Willen der Initiatoren mehr sein als eine reine Arbeiterbildungsmaßnahme, keine bloße Erwachsenenbildung oder Treffpunkt des Gewerkschaftsnachwuchses.

Nein, die Neugründung sollte schon eher eine „Eliteschule“ sein, Vermittlung praktischer Agitation und Erwerb grundlegender theoretischer Kenntnisse – eine Idee, die 1906 kurz nach der Revolutionsbewegung in Russland aufgekommen war. (11)

Rosa Luxemburg war bezeichnenderweise damals die einzige Frau, die sich als Dozentin an der Parteischule durchsetzen konnte, aber auch nur nachdem zwei männliche Kollegen (ein gebürtiger Österreicher und ein Niederländer) von der preußischen Polizei gezwungen worden waren, ihre Dozentenstellen aufzugeben. Nach kurzem Zögern, weil sie inhaltliche Vorgaben durch den Parteivorstand befürchtete, was aber ausblieb, nahm sie das Angebot zum Herbst 1907 an: Nicht zuletzt mit dem Ansporn, „eine Lanze für die Wissenschaft zu brechen“. (12) 

Ihre Fächer, somit Schwerpunkte des Unterrichts, waren Nationalökonomie und Wirtschaftsgeschichte; ab 1911 zusätzlich ihr persönliches Steckenpferd: die „Geschichte des Sozialismus“.

Sie galt praktisch ab der ersten Vorlesung als geborene und begeisterte Lehrerin; da es auch kaum Frauen unter den Kursteilnehmern gegeben hat (keine zehn Prozent), war es sicher nicht immer einfach, sich bei ihren Hörern, aber auch den männlichen Kollegen an der Schule zu behaupten. Rosa Luxemburg gelang dies trotzdem, so dass sie für lange Jahre eine berufliche und materielle Absicherung über die SPD gefunden hatte.

Rosa Luxemburg hatte als Dozentin die Begabung, den sicher eher trockenen Lehrstoff zur „Nationalökonomie“ plastisch und damit unterhaltsam darzustellen.

Auf den überlieferten Fotografien ist Rosa Luxemburg ja nicht nur als einzige Frau am Lehrkörper der Parteischule zu sehen, sondern neben den damaligen „Parteigranden“ gehörten auch zahlreiche damals noch jüngere Genossen, die später hohe politische Funktionen einnehmen sollten.

Sowohl rechte Mehrheits-SPDler wie Friedrich Ebert, Fritz Tarnow oder gar ein August Winnig (der im März 1920 offen Kapp und Lüttwitz unterstützte), aber auch spätere hohe DDR-Funktionäre (Pieck u. Koenen) gehörten zu den Kursteilnehmern; alle konnten viel von der kleinen Frau lernen.

IV) Das Buch zur Akkumulation des Kapitals von 1913

Inspiriert und durch den dauernden Austausch mit Kollegen und Schülern befördert, gingen aus der Zeit ihrer Lehrtätigkeit an der Parteischule zwei Arbeiten Luxemburgs hervor.

Zum einen eine Einführung in die Nationalökonomie, eine schriftliche Abfassung aus den mündlichen Inhalten ihrer entsprechenden Vorlesungen (eine klassische Vorgehensweise in der „vordigitalen“ Bildungswelt); zum anderen ihr bedeutendstes Buch, das 1913 erschienene Werk „Die Akkumulation des Kapitals – Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“.

Aus heutiger Sicht, zumindest oberflächlich für die meisten Opfer der bundesdeutschen Bildungsmisere, völlig antiquiert; so weiß doch jeder begeisterte Nutzer digitaler Verkaufsplattformen, wie toll die moderne Warenwelt dank Internet und Smartphone geworden ist.

Über die mit „Lieferketten“ verbundenen geopolitischen Abhängigkeiten und eine grauenhafte Ressourcenverschwendung möchte keiner der angehenden „young professionals“ sprechen.

Doch genau an diesen Punkten, wenn es um die Auswüchse moderner ökonomischer Prozesse geht, dürfte die Aktualität von Rosa Luxemburgs Überlegungen zu finden sein. Hierzu muss man sich aber in ihre Gedankenwelt begeben.     

Dies wird mit Sicherheit nicht dadurch vereinfacht, wenn man bloß an den Buchstaben kleben bleibt. Wenn sogar Rosa Luxemburg z.B. schon im Vorwort des Buches beklagt:

„Es wollte mir nicht gelingen, den Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion in ihren konkreten Beziehungen sowie ihre objektive geschichtliche Schranke mit genügender Klarheit darzustellen“, kann dies heutige Leser augenblicklich abschrecken. Dabei wird bei weiterer Lektüre rasch deutlich, dass es ihr um die Darstellung und Vermittlung des Zusammenhangs der ökonomischen Wurzeln des Kapitalismus und der Praxis imperialistischer Politik gegangen ist.

Diesen Schwerpunkt, diesen roten Faden also, sollte man an keiner Stelle aus den Augen verlieren. Die Beschäftigung mit dem Thema „Imperialismus“ stellte ja bereits damals seit etwa zwanzig Jahren einen ganz besonderen Schwerpunkt in Luxemburgs theoretischen Überlegungen dar.

Nun versuchte sie, eine andere grundlegende Frage des wissenschaftlichen Sozialismus, nämlich das Problem der Reproduktion des Kapitals, unter dem speziellen Aspekt des überbordenden Imperialismus zu beleuchten.

Einerseits hatte die gesamteuropäische Außenpolitik in den ersten Jahren nach 1900 insgesamt eine gefährliche Entwicklung genommen, die ab 1911 noch dramatisch in Richtung eines Weltkrieges gesteigert wurde (als Stichworte müssen genügen: 2. Marokkokrise 1911, gleich zwei Balkankriege 1912/13).

Andererseits schienen die ökonomischen Imperialismustheorien, die ab etwa 1900 entwickelt wurden, genau den kriegstreiberischen Effekt des Finanzkapitalismus zu untermauern.

Rosa Luxemburg war ja weder die erste noch die einzige, die einen derartigen Zusammenhang konstatierte und wissenschaftlich zu erklären suchte. Neben vereinzelten Autoren aus England, die eher den klassischen Liberalismus vertraten, waren besonders Rudolf Hilferding und Lenin mit entsprechenden Arbeiten hervorgetreten. Teilweise ergänzend, aber auch in Konkurrenz zu Luxemburg.

Alle diese kapitalismuskritischen Theorien hatten den Ansatz, dass in den seinerzeit bestehenden plutokratischen Sozialstrukturen der führenden Wirtschaftsmächte das bei wenigen Monopolisten angesammelte Kapital nicht mehr in den stagnierenden Inlandsmärkten, sondern außerhalb – also besonders in den Kolonien – angelegt werden musste.

Andere Aspekte, günstige (billige) Rohstoffe oder Arbeitskräfte werden zwar gerne auch genannt, waren aber in der Realität meist sekundär bzw. ein Trugschluss (bezüglich der Arbeitskräfte gilt diese Illusion wohl bis heute). Nach den o.g. Theorien waren es tatsächlich besonders die erwarteten Investitionsmöglichkeiten für das anlagesuchende Kapital, die die großen Kapitaleigner bewogen, auf ihre nationalstaatlichen Regierungen derart viel Einfluss und Druck auszuüben, dass diese es als nationalpolitische Aufgabe ansahen, die „neuen“ Märkte in Übersee (aber auch in Teilen des osmanischen Reiches, inkl. des Baus der „Bagdadbahn“) zu erobern.

Das dabei verfolgte Grundprinzip gilt aber witzigerweise bis heute – zumindest in der westlichen Welt: Global agierende Großkonzerne versuchen die mit neuen Strategien bzw. Produktionsvorgängen verbundenen Risiken zu verallgemeinern (also den Steuerzahlern aufzubürden, sozusagen zu „sozialisieren“), spätere Gewinne werden natürlich als Folge der eigenen „Unternehmerinitiative“ ungeschmälert als privater Profit eingefordert und oft nicht einmal „ordentlich“ (also juristisch korrekt) versteuert.     

Luxemburg hat diesen Gesamtkomplex zunächst historisch nachgezeichnet (über viele Kapitel), dabei neben den Klassikern der „Nationalökonomie“, wie Adam Smith, auch spezielle Vertreter des sog. Frühsozialismus, die heute praktisch niemand mehr kennt (Ausnahmen dürften David Ricardo oder Thomas Malthus sein), behandelt. Auf Einzelheiten wie Mehrwert, Äquivalenz oder Arbeitswert und Geldwert muss an dieser Stelle verzichtet werden (obwohl einige der bereits vor beinahe 200 Jahren geführten Diskussionen auch im 21. Jahrhundert noch von Interesse sind, so bei der Finanzkrise vor knapp zehn Jahren). Zum eigentlichen Anliegen in Luxemburgs ökonomischen Hauptwerk führt ihr Biograph Nettl aus:

„In der Akkumulation des Kapitals wollte Rosa Luxemburg den Imperialismus nicht beschreiben, sondern seine Ursachen aufdecken. (…) Was zuerst ihr Interesse erregte, war ein spezieller Punkt der marxistischen ökonomischen Theorie, nämlich das Problem der kapitalistischen Reproduktion, das Marx im zweiten Band des Kapitals behandelt hatte, ohne zu einem endgültigen Abschluß gekommen zu sein. Ihr Versuch, das Problem zu lösen, führte sie, gewissermaßen beiläufig, zur Entdeckung dessen, was sie für die theoretische Begründung des Imperialismus hielt. Sie schlug zwei Fliegen mit einer Klappe, indem sie nicht nur entdeckte, wie erweiterte Reproduktion im kapitalistischen System möglich war, sondern auch, wie diese zwangsläufig zum Imperialismus und schließlich zum Zusammenbruch führen mußte.“ (13)

Rosa Luxemburg gründete daher ihre Imperialismus-Theorie auf ökonomischen Faktoren, deren Ursachen sie aber nicht hauptsächlich in Europa an sich, sondern speziell in den Kolonialreichen verortete. Für sie war nämlich der Imperialismus keine ausschließlich „koloniale“ Frage, sondern mehr ein innergesellschaftliches Problem der „fortgeschrittenen“ kapitalistischen Länder (West-)Europas. (14)

„Die in der Akkumulation des Kapitals entwickelte Theorie ist im Grunde ziemlich einfach. Nach marxistischer Auffassung muß der Kapitalismus unter der Last seiner ökonomischen Widersprüche zusammenbrechen. Marx hatte für diese Behauptung einige mathematische und empirische Beweise geliefert, die Rosa aber nicht zwingend genug erschienen. Da es ihr nicht gelang, das Problem mathematisch zu lösen, hielt sie Ausschau nach einer anderen, äußeren Ursache des Zusammenbruchs. Diese entdeckt sie in folgendem Umstand: Der Kapitalismus konnte nicht statisch existieren, er war seinem Wesen nach auf Wachstum angewiesen; dieses Wachstum war aber nur so lange möglich, wie es noch vorkapitalistische Länder gab, die erobert und in die ökonomische Einflußsphäre der kapitalistischen Kolonialmächte einbezogen werden konnten. War erst die gesamte Erdoberfläche vom Prozeß der kapitalistischen Akkumulation erfaßt, so konnte der Kapitalismus nicht mehr wachsen und mußte zusammenbrechen.“ (15)

Würde man diese Thesen ohne den größeren Zusammenhang mit den zur Zeit Luxemburgs virulenten Theorien vor allem nationalliberaler Autoren und Politiker, also unvermittelt dem heutigen Publikum präsentieren, wäre höchstens ein müdes Lächeln zu erwarten.

Doch um 1900 hatte sich in wirtschaftsliberalen Kreisen eine ganz bestimmte Haltung durchgesetzt: expansive Politik in Übersee (also letztlich die Ausbeutung der in den Kolonien beheimateten indigenen Völker) und eine auf unbegrenztes Wachstum setzende Volkswirtschaft seien nicht nur allgemeinökonomisch zwingend, sondern auch für die breite Masse der (z.B. deutschen) Arbeiterschaft zur Erhaltung des eigenen Lebensstandards sinnvoll.

Diese spezielle Verbindung von kapitalistischem Profitstreben und der (in Aussicht gestellten) Absicherung der heimischen Arbeiterschaft diente bestimmten Kreisen zur ideologischen Rechtfertigung des nationalen Imperialismus; bekannte Vertreter dieser Argumentation waren aus dem englischen Raum Cecil Rhodes (nach dem Rhodesien benannt wurde), J. Chamberlain und in Deutschland ein gewisser Friedrich Naumann als Imperialisten getarnte Chauvinisten mit großem politischen Einfluss. (16)

Für Rosa Luxemburg waren diese Zeitgenossen und ihre Ideologien so nah und greifbar, dass sie in ihrem Werk, das ja auch als Widerlegung dieser marktradikalen Imperialismusbefürworter gedacht war, kaum ein Wort zur Begründung des eigentlichen Phänomens zu verlieren brauchte.

Sie setzte die Tatsache „Imperialismus“ als politisches Phänomen voraus; daher bestand ihre eigentliche Frage nicht darin, „was ist der Imperialismus“, sondern „warum ist er unvermeidlich“. (17)

Exkurs: Merkmale des „Imperialismus“ Ende des 19. Jahrhunderts

Eine exakte Abgrenzung zwischen „Kolonialismus“, der ja bereits in der Antike vorhanden war („Griechenland“ sowohl zur Zeit der Stadtstaaten als auch unter Alexander; ganz besonders dann „Rom“ sowohl zur Zeit der Republik als auch speziell ausgeprägt in der „Kaiserzeit“ bis zum Untergang von Byzanz/Konstantinopel), und dem Phänomen „Imperialismus“ kann hier nicht geleistet werden.

Versucht man, für die zeitliche Verortung ein simples Datum zu finden, würde sich mit dem englischen Historiker Geoffrey Barraclough der Ausbruch (und erst recht der Ausgang) des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 anbieten. (18)

Betrachtet man die französische Niederlage und die Gründung bzw. den Aufstieg des deutschen Kaiserreichs als Beginn der politischen Destabilisierung Europas, da durch dieses „Großereignis“ das bis dahin peinlich aufrechterhaltene „Gleichgewicht der Kräfte“ (seit dem Wiener Kongress) nachhaltig gestört worden ist.

Geht man daher weiter davon aus, dass eine Auswirkung dieser neuen Konstellation darin bestand, dass (bis auf Österreich-Ungarn) alle europäischen Großmächte (und die, die gerne dazu gehören wollten, so Belgien) auf territoriale Eroberungszüge außerhalb Europas gingen, so hat man eine Erklärung für das „Rennen“ um die letzten freien Gebiete besonders in Afrika (im Sinne von Aufteilung der Beute).

Vereinfacht gesagt, gab es somit drei Ursachen für das Aufkommen der Phase des Hochimperialismus: politische Konkurrenz (reine Machtfragen), eitles Prestigedenken einiger Monarchen und ökonomische Expansionsbestrebungen.

Auch bei diesem Komplex ist es nicht einfach, zwischen Ursachen und Auswirkungen zu unterscheiden oder pointiert formuliert: Wer war Koch, wer war Kellner?

Waren die nationalstaatlichen Regierungen autonome Akteure oder hielten die führenden Industriekreise (besonders aus der Schwer- und Rüstungsindustrie) die Fäden in der Hand?

Haben die einschlägigen Konzerne zur Realisierung direkter Rüstungsaufträge bzw. künftiger Förderungen (heute: Subventionen) unmittelbar auf die Außen- und Kolonialpolitik ihrer Länder eingewirkt oder waren sie bloße Profiteure, die bereits vorhandene politische Maßgaben umzusetzen halfen?       

Zumindest sind bestimmte Tendenzen in Politik und Wirtschaft parallel bzw. gleichförmig abgelaufen mit dem Ziel, sich immer weiter auszubreiten. Gemeinsame Interessen von nationalstaatlicher Politik und kapitalistischer Wirtschaftsdoktrin wurden koordiniert (z.B. im kaiserlichen Kolonialamt) und führten zu einer Verflechtung. Kurz auf einen Nenner gebracht: aggressive Außenpolitik (die im Trend der Zeit lag) gepaart mit protektionistischer Wirtschaftspolitik zugunsten bestimmter Wirtschaftskreise.

Insoweit sind natürlich auch unterschiedliche Beschreibungen und Deutungen des „Imperialismus“ vorhanden. Zwei große Theorielager zeichnen sich ab:

So die eher bürgerlichen Autoren, wie Mommsen u.a., die stärker kulturell-mentalitätsgeschichtliche Merkmale unterstreichen, und zum anderen Vertreter „linker“ Positionen, wie Luxemburg, die den gesamten Komplex des Imperialismus als spezifische Ausprägung des Kapitalismus betrachten (deswegen auch einen Fokus auf den militärischen Bereich legen).   

Soweit ein sehr knapper Versuch, das Thema „Imperialismus“ historisch einzuordnen.

Doch die Frage, wie erging es eigentlich den betroffenen Menschen und besonders, welche Auswirkungen hatte diese neue Form ökonomischer Wachstumslehre um jeden Preis für die einfachen Arbeiter und Arbeiterinnen, war seinerzeit im Prinzip völlig unerheblich.

Genauso wie im staatlichen Bereich gab es auch im Unternehmertum keine Neigung, die Untertanen bzw. abhängig Beschäftigten in irgendeiner Weise mittels demokratischer Instrumente zu beteiligen – zumindest nicht freiwillig (daher wurde die Gründung von Gewerkschaften nur zähneknirschend hingenommen und die Anhänger der Sozialdemokratie bis zum Ende des Ersten Weltkrieges und teils noch darüber hinaus als „vaterlandslose Gesellen“ disqualifiziert).  

Nur wenige machten sich Gedanken über das Schicksal der „Proletarier“ – eine davon war zweifellos Rosa Luxemburg, die insoweit in der Tradition des europäischen Humanismus stand, anders als ein Lenin

„Rosa Luxemburgs Lehre vom Imperialismus gründete sich notwendig auf bestimmte Vorstellungen über Demokratie (…). Die Massenaktion war für Rosa Luxemburg niemals ein rein formales Konzept. Schon sehr früh betonte sie die Bedeutung des Klassenbewußtseins, woraus zu ersehen war, eine wie wichtige Rolle sie den »bewußten«, erzogenen Massen zuwies.“ (…)

„Für Rosa Luxemburg bestand die Gesellschaft zuerst und vor allem aus Menschen. Sie mochten in ihrer großen Mehrzahl die Rollen spielen, die ihnen der Kapitalismus zuwies; aber es war ja der ganze Sinn der sozialen Revolution, ihnen neue Rollen zu geben. Nur so kann Rosa Luxemburgs Revolutionsbegriff verstanden werden: erfüllt von Moral und Menschlichkeit.“ (19)

Dies zu kennen und zu verstehen, ist auch bei Luxemburgs Imperialismustheorie denknotwendig. Daher sind nun einige „Kernaussagen“ näher zu betrachten:

„Aber jeder Marxist muß viel von Ökonomie verstehen, und ohne die Akkumulation des Kapitals wäre Rosa Luxemburg nichts als eine überdurchschnittlich gute Kennerin der Wirtschaftsgeschichte gewesen. Die Akkumulation des Kapitals ist ein vielschichtiges Werk von sozusagen beiläufiger Genialität – beiläufig deswegen, weil es Ruhm und Bedeutung in einer ganz anderen Richtung gewann, als die Verfasserin erhoffte. Es sollte den Imperialismus »erklären«, erklärte ihn aber ebenso wenig, wie die Relativitätstheorie das Licht erklärt (was Einstein freilich auch nie damit beabsichtigte). Es sollte das Problem der erweiterten Reproduktion mathematisch lösen, löste es jedoch nicht (…). Schließlich sollte es eine rationale Erklärung dafür liefern, wie sich kapitalistische Expansion trotz der streng begrenzenden Parameter der marxistischen Ökonomie vollziehen könne, und sollte zugleich theoretisch den Punkt des unvermeidlichen Zusammenbruchs fixieren. Rosa Luxemburg gab zwar eine Lösung des Problems, aber diese Lösung befriedigte weder die damaligen noch die späteren, weder die bürgerlichen noch die kommunistischen Ökonomen. Dafür warf aber Rosa Luxemburg eine Frage hinsichtlich der Investition auf, die damals völlig neu war und noch heute von Belang ist. Statt einer stichhaltigen Theorie des Imperialismus lieferte sie eine Theorie des Wachstums, die wenigstens von einigen heutigen Wirtschaftswissenschaftlern für bedeutend und vertretbar gehalten wird. Rosa Luxemburgs politische Erben haben das Werk (…) verbannt und (…) gegen sie mißbraucht. Ihre alten Feinde hingegen, die professionellen bürgerlichen Ökonomen (…) entdecken heute prophetische Züge in Rosa Luxemburgs Fragestellung.“ (20)  

Diese Charakterisierung soll im Folgenden etwas näher betrachtet werden:

„In der kapitalistischen Wirtschaft ist nach marxistischer Auffassung die Produktion die primäre Funktion; sie hat Vorrang vor der Konsumtion und der von dieser abgeleiteten Nachfrage. Verteilungsprobleme sind nur technischer Natur (…). Abgesehen von vorübergehenden Störungen durch Krisen – von denen Rosa Luxemburg ausdrücklich abstrahiert -, wird alles Produzierte »konsumiert« (…). Solange die Gesamtproduktion – das jährliche Nationaleinkommen – auf diese Weise »konsumiert« wird und das Grundkapital gleich bleibt (Investition gleich Ersatz), befindet sich die Wirtschaft im Gleichgewicht. Das ist die Marxsche einfache Reproduktion. (…)

Die Produktion, nicht die Konsumtion hat Vorrang; es ist der Zweck des kapitalistischen Wirtschaftens, den Profit zu steigern, um ihn reinvestieren und noch weiter steigern zu können. Das Grundkapital wächst. Das Einkommen der Konsumenten steigt jedoch nicht proportional an (…).

Und diese Störung ist progressiv; sie verstärkt sich mit fortschreitender Akkumulation. Eine den Investitionen proportionale Akkumulation ist folglich unmöglich (…).

Gesucht wurde eine Nachfrage, (…) nämlich die durch das zwangsläufige Profitstreben erzeugte zusätzliche Produktmenge zu »konsumieren«.

Zunächst untersuchte Rosa Luxemburg die verschiedenen Möglichkeiten, die Marx selbst angedeutet hatte. Die einleuchtendste erwähnte sie jedoch nur im Vorübergehen, als Teil des Problems selbst, nicht als seine Lösung. Das ist die These, daß die Investition nicht der Ausgangspunkt der ökonomischen Kausalität ist, sondern eine abgeleitete Funktion der Produktion (…). Ohne sie ist der Kapitalist bald aus dem Rennen geworfen (…). Profite sind also das Ziel kapitalistischer Tätigkeit, doch ist diese Zielsetzung kein Willensakt, sondern schiere Notwendigkeit. (…)

Für sie war dieser Sachverhalt immer nur ein Teil des Problems, eine Mitursache von Konkurrenz und Anarchie. (…) Der technische Wandel war dann nur eine zusätzliche Komplikation (…).

Der ausgleichende Faktor ist nach Rosa Luxemburg die Existenz vorkapitalistischer Wirtschaften sowie vorkapitalistischer (hauptsächlich agrarischer) Enklaven in kapitalistischen Wirtschaften. Die »Kapitalisierung« solcher Gebiete gibt den Kapitalisten die Erwartung steigender Profite und ständiger Investitionen und liefert somit den Anstoß zum Wachstum. Der Prozeß kann andauern, solange derartige Gebiete existieren. Sind sie alle vom Kapitalismus verschlungen, so wird die Akkumulation zur Selbstzerfleischung, und (…) bricht zusammen.“ (21)     

Die von Rosa Luxemburg beschriebenen Wirkungsweisen und Kausalitäten erscheinen bei ihr unter einem dezidiert politischen, weniger ökonomischen Aspekt:

Wenn kapitalistische Wirtschaftssysteme (aus Überproduktion entstandene) Konsumgüter exportieren, um „billige“ Rohstoffe aus den Kolonien zu bezahlen, zugleich angesammeltes Kapital für Investitionen (z.B. Sachanlagen, wie Fabriken oder Plantagen) in den Kolonien einsetzen, um die dortigen Arbeitskräfte „auszubeuten“, wird die Frage der Kolonialisierung aus ökonomischer Sicht mit dem Phänomen des Imperialismus als politischer Option zu einem Junktim verbunden.

Für Rosa Luxemburg war dieser charakteristische Zusammenhang (wenn man so will eine Art „Wesenszug“) aber nur eine Erscheinungsform (ein Effekt), aber nicht die wahre Ursache.

Hierauf geht sie ganz besonders im letzten Kapitel ihres Buches, das mit „Der Militarismus auf dem Gebiet der Kapitalakkumulation“ überschrieben ist, ein:

„Wenn eine kapitalistische Volkswirtschaft vorkapitalistische Gesellschaften erobern und verschlingen muß, um sich am Leben zu halten, dann müssen andere kapitalistische Länder den eroberten Gebieten ferngehalten werden. Der ganze Apparat des Militarismus und die für ihn so typischen verschärften sozialen Spannungen haben also zwei Ursachen: Erstens die Notwendigkeit, Kolonien ihren eingeborenen Herrschern zu entreißen, und zweitens die Notwendigkeit, sie zu halten und möglichst auf Kosten anderer Kolonialmächte zu vergrößern.“ (22)

Um diese Thesen einordnen zu können, müssen diese mit Luxemburgs Einstellung zur „nationalen Frage“ in Bezug gesetzt werden. In diesem Zusammenhang hat sie eine tiefsinnige Unterscheidung zwischen zwei Formen von „Kolonialismus“ getroffen. Ursprüngliche Auswanderer aus Europa, die ihre nationale Unabhängigkeit vom bisherigen Mutterland erringen wollten (exemplarisch: die dreizehn Kolonien, aus denen die USA entstanden sind), auf der anderen Seite die sog. Kolonialherren, die meist mit Hilfe lokaler Führungsschichten eine kapitalistische Entwicklung in den Kolonien durchführen wollten. Bei dieser Gruppe stand ausschließlich das Profitstreben im Mittelpunkt, das sogar noch weiterbestand, auch nachdem der Großteil z.B. der afrikanischen Kolonien ab etwa 1960 formal in die Unabhängigkeit entlassen worden waren; letztere Konstellation unterstreicht die Mächtigkeit von ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen auch ohne physische Herrschaft europäischer Nationalismen. (23) 

Rosa Luxemburg hat bei ihrer Imperialismus-Theorie versucht, die Aufmerksamkeit auf die Entwicklung in den Kolonien selbst (erst später wurde pauschal von der „Dritten Welt“ gesprochen) zu lenken. Die Ausbeutung der vorkapitalistischen Gesellschaften in den Kolonien war ja ein Fakt, der nicht wegdiskutiert werden konnte. Genauso wenig die Prognose, dass eines Tages keine vorkapitalistischen Räume bzw. Segmente mehr vorhanden sein werden (so die marxistische Theorie).

Wenn demnach Produktion und Profit als Haupttriebfedern des Kapitalismus erscheinen, stellte sich für Luxemburg zwangsläufig die Frage, warum setzen Kapitalisten ihr Verhalten fort, obwohl es keine Perspektive hat; anders gewendet: Woher erwarten sie eine Nachfrage, die immer weitere Investitionen rechtfertigt? (24)

Diese – nur auf den ersten Blick simpel wirkende – Fragestellung führte zu den maßgeblichen Grundlagen moderner „Wachstumsmodelle“ und -theorien.

Vereinfacht gesagt, geht es um die Erschließung zusätzlicher Nachfragequellen, also „neuer Märkte“.

Speziell zum Thema „Militarismus“ führt sie im letzten Kapitel aus:

„Der Militarismus übt in der Geschichte des Kapitals eine ganz bestimmte Funktion aus. Er begleitet die Schritte der Akkumulation in allen ihren geschichtlichen Phasen. (…) spielt der Militarismus die entscheidende Rolle bei der Eroberung der Neuen Welt und der Gewürzländer Indiens, später bei der Eroberung der modernen Kolonien, Zerstörung der sozialen Verbände der primitiven Gesellschaften und Aneignung ihrer Produktionsmittel, bei der Erzwingung des Warenhandels in Ländern, deren soziale Struktur der Warenwirtschaft hinderlich ist, bei der gewaltsamen Proletarisierung der Eingeborenen und der Erzwingung der Lohnarbeit in den Kolonien, bei der Bildung und Ausdehnung von Interessensphären des europäischen Kapitals in außereuropäischen Gebieten, bei der Erzwingung von Eisenbahnkonzessionen in rückständigen Ländern und bei der Vollstreckung der Forderungsrechte des europäischen Kapitals aus internationalen Anleihen, endlich als Mittel des Konkurrenzkampfes der kapitalistischen Länder untereinander um Gebiete nichtkapitalistischer Kultur.“

In diesem besonders aussagekräftigen Kapitel geht Luxemburg auch dem Zusammenhang von staatlicher Steuerpolitik und der Realisierung des kapitalistischen „Mehrwerts“ nach, indem der Staat betreffende Anreize setzt:

„Jetzt sehen wir, wie die Verwendung der dem Arbeiter abgepreßten Steuern zur Herstellung von Kriegsmitteln dem Kapital eine neue Möglichkeit der Akkumulation bietet.

Praktisch wirkt der Militarismus auf Grundlage der indirekten Steuern nach beiden Richtungen, indem er auf Kosten der normalen Lebensbedingungen der Arbeiterklasse sowohl die Erhaltung der Organe der Kapitalsherrschaft, der stehenden Heere wie das großartigste Akkumulationsgebiet des Kapitals sichert.“

Daher leuchtet ihre Schlussfolgerung auch dem „kleinen Mann“ ein:

„Die geschichtlichen Notwendigkeiten der verschärften Weltkonkurrenz des Kapitals um seine Akkumulationsbedingungen verwandeln sich so für das Kapital selbst in ein erstklassiges Akkumulationsfeld. Je energischer das Kapital den Militarismus gebraucht, um die Produktionsmittel und Arbeitskräfte nichtkapitalistischer Länder und Gesellschaften durch die Welt- und Kolonialpolitik sich selbst zu assimilieren, um so energischer arbeitet derselbe Militarismus daheim, in den kapitalistischen Ländern, dahin, den nichtkapitalistischen Schichten dieser Länder, d.h. den Vertretern der einfachen Warenproduktion, sowie der Arbeiterklasse fortschreitend die Kaufkraft zu entziehen (…), um auf beider Kosten die Kapitalakkumulation gewaltig zu steigern. (…)

Je gewalttätiger das Kapital vermittelst des Militarismus draußen in der Welt wie bei sich daheim mit der Existenz nichtkapitalistischer Schichten aufräumt und die Existenzbedingungen aller arbeitenden Schichten herabdrückt, um so mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen (…).“ (25)

Diese „Vorhersagen“, die Rosa Luxemburg knapp zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges abgegeben hat, sind – ganz ohne ideologische Scheuklappen – allesamt und teils gleich mehrfach eingetreten.

Spätestens seit den 1980er Jahren muss zu den ursprünglich politischen und sozialen Katastrophen noch das riesengroße Problem der Umweltzerstörung (in allen Variationen) hinzugerechnet werden.

Dies war um 1910 in der gravierenden Form noch nicht absehbar (auch wenn bereits damals der Begriff der „Nachhaltigkeit“ zumindest theoretisch bekannt war).

Zum Abschluss ihres letzten Kapitels und damit auch des gesamten Buches zieht Rosa Luxemburg folgendes Resümee:

„Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsform mit propagandistischer Kraft, eine Form, die die Tendenz hat, sich auf dem Erdrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen, die keine andere neben sich duldet. (…) Er ist ein lebendiger historischer Widerspruch in sich selbst (…).“

Zur Lösung all der mit dem seinerzeit als Krebsgeschwür empfundenen Kapitalismus mit den besonders prägnanten „Nebenwirkungen“, wie Imperialismus und Militarismus, gibt die eingefleischte Marxistin (also nicht unbedingt im Einklang mit der später herrschenden Strömung der deutschen Sozialdemokratie) ein – aus ihrer Sicht – „Patentrezept“:

Den „Sozialismus – derjenigen Wirtschaftsform, die zugleich von Hause aus Weltform und in sich ein harmonisches System, weil sie nicht auf die Akkumulation, sondern auf die Befriedigung der Lebensbedürfnisse der arbeitenden Menschheit selbst durch die Entfaltung aller Produktivkräfte des Erdrundes gerichtet sein wird“. (26)

Dieser Teil ihrer Ausführungen mag etwas sehr optimistisch klingen, besitzt aber vor allem keine wissenschaftliche Stringenz. Diese hätte zur Abrundung ihres Gesamtwerks sicher gut gestanden.

Unter den Bedingungen ihrer mehrjährigen Haft und der danach unmittelbar gegen sie einsetzenden Treibjagd (zumindest von prominenten Mehrheits-SPD-Politikern losgetreten) war daran natürlich nicht zu denken. Diese spürbare Lücke konnte Rosa Luxemburg nicht mehr füllen.     

Zusammengefasst lässt sich über Luxemburgs Akkumulationsbuch sagen:

In ihrem Buch wollte Rosa Luxemburg ein ökonomisches Theorem entwickeln und dem Publikum darlegen; sie beabsichtigte jedoch keinen „Leitfaden für politische Revolutionen“ (Nettl).

Sie bezog sich auf objektive Tatsachen, dass koloniale Einflusssphären ab Ende des 19. Jahrhunderts von größter Bedeutung für ständig wachsende kapitalistische Wirtschaftssysteme gewesen sind. Hierbei konstatierte sie einen charakteristischen Zusammenhang von Rationalisierung des kapitalistischen Außenhandels und einer evidenten „Verarmungstendenz“ in den kolonialisierten Gebieten.

Hieraus folgerte sie, dass der Gegensatz bzw. die Konfrontation zwischen reichen und armen Gesellschaften (in dialektischer Weise) dem bisherigen Klassenkampf innerhalb der kapitalistischen Nationalstaaten (West-)Europas entspreche. Die Frontstellung „armer Süden“ gegen „reicher Norden“ spiegelte somit die alten Konflikte auf internationaler Ebene wider.

Daher auch ihre Betonung, welche Bedeutung der Rolle des internationalen Proletariats zukommen müsse; Luxemburg war von der historisch bedeutsamen Rolle des Proletariats insgesamt absolut überzeugt: Ausfluss dieser Überzeugung war nicht nur ihr wissenschaftliches Werk, sondern auch ihr furchtloses Auftreten in der Öffentlichkeit.       

V) Folgerungen und Ausblick

Ihre Gegner – so im Umfeld von Lenin und Stalin, also besonders im bolschewistischen Lager – haben Rosa Luxemburg später viele Fehler oder sog. Irrtümer unterstellt und vorgeworfen (trotzdem fiel sie nie-mals derart in Ungnade wie ein Leo Trotzki oder viele der frühen Aktivisten in der KPD). Dieses Phänomen wurde als sog. „Luxemburgismus“ wie eine Schublade genutzt, aber in Wirklichkeit haben sich die „sowjetisch“ geprägten Theoretiker von Plan- und Kommandowirtschaft nie die echte Mühe gemacht, die grundsätzlichen Annahmen und Positionen in Luxemburgs ökonomischen Konzepten, wozu ganz besonders ihre Imperialismus-Theorie zu zählen hat, ernst zu nehmen oder gar weiterzuentwickeln.

Von Detailfragen abgesehen, hat Luxemburg versucht, einerseits eine Verbindung alt bekannter Erscheinungen, wie den neuzeitlichen Kolonialismus (der ja seit dem 15. Jahrhundert existierte), mit dem besonders im späten 19. Jahrhundert exponentiell auftretenden (Hoch-)Imperialismus als nationalstaatlichem Politikprogramm zu ziehen, und andererseits diese machtpolitischen Phänomene mit ganz spezifischen ökonomischen Ausprägungen der kapitalistischen Wirtschaftsordnungen, wie z.B. Reproduktion, Kapitalakkumulation oder auch „Unterkonsumtion“, zu verknüpfen.

Die in den knapp dreißig Jahren zwischen 1880 und 1910 aufgetretenen Krisenerscheinungen waren ja unübersehbar und schienen mit den altbekannten Theorien nur unzureichend darstellbar.

Für Rosa Luxemburg konnte die Lösung der Probleme, welche die Existenz von Industriegesellschaften (im Übergang zu späteren Risikogesellschaften) erst überhaupt aufwarfen, nur in der Überwindung von nationalistischen Bestrebungen und einer Internationalisierung des „Proletariats“ (der Begriff „Arbeitnehmer“ ist doch recht unspektakulär) und der Wertschöpfung insgesamt zu erreichen sein.

Durch ihren frühen Tod blieben viele ihrer (skizzenhaften) Thesen bzw. theoretischen Ansätze unvollendet oder zumindest ausbaufähig.

Wie hätte Luxemburg wohl auf die erste demokratisch legitimierte Verfassung in Deutschland, die – im Gegensatz zur „Paulskirche“ – auch tatsächlich Verfassungswirklichkeit geworden ist, reagiert?

Eine (zugegebenermaßen) hypothetische, vielleicht auch abwegige Frage, da Rosa Luxemburg ja bereits fast sieben Monate tot war, als die Weimarer Reichsverfassung (WRV) im August 1919 in Kraft getreten ist. Selbst ohne ihre Ermordung (sie die erklärte Kriegsgegnerin) durch im Sold eben dieser Republik stehende, verblendete Soldaten, ist es nur schwer vorstellbar, dass man (wer, ein Friedrich Ebert, der mit Groener paktierte?) im Rahmen der Beratungen zur WRV beim Thema „Ausgestaltung des Wirtschaftslebens“, fünfter Abschnitt der WRV, Rosa Luxemburg als Sachverständige o.ä. hinzugezogen hätte.

Wenn sogar ausgewiesene Fachmänner in ökonomischen Fragen, wie z.B. ein Walther Rathenau, beim Verfassungsberatungsprozess und auch in der ersten Sozialisierungskommission einfach ignoriert und übergangen wurden, da man kritische Geister fürchtete, wie der Teufel das Weihwasser, welcher der Herren hätte bei den Beratungen ausgerechnet eine Frau zugelassen oder ihr gar zugehört, die als äußerst selbstbewusst, schon notorisch „aufmüpfig“ bzw. anstrengend galt? Von der damaligen Führungsriege der Mehrheits-SPD garantiert niemand! 

Wer jetzt vielleicht erstaunt fragt, was denn die WRV in diesem Zusammenhang zu bedeuten hat, dem sei ein Blick in den damaligen Verfassungstext empfohlen:     

Denn immerhin lautete in Artikel 151 Absatz 1 S. 1 der Grundsatz: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen.“

Dies wird an weiteren Stellen konkretisiert: Art. 155 Abs. 4 ordnete an, dass alle Bodenschätze und alle wirtschaftlich nutzbaren Naturkräfte unter staatlicher Aufsicht stehen (sollen). Und Art. 156 gab (allerdings bloß als „Ermessensvorschrift“) die Befugnis zur „Sozialisierung“, somit zur Vergesellschaftung im Sinne von Gemeineigentum; in Art. 156 Abs. 2 sprach der Verfassungsgeber sogar vom „Zwecke der Gemeinwirtschaft“.

Jedoch wurde in der Realität der (frühen) Weimarer Republik von all diesen wunderbar klingenden Kompetenzen nahezu kein Gebrauch gemacht; und wenn, wie bei der zweiten Sozialisierungskommission, doch einige Vorschläge für bestimmte Branchen (Bergbau u.ä.) gemacht wurden, haperte es an der Umsetzung, da die beteiligten Industriellenkreise kein Bedürfnis an einer wirksamen Einflussnahme auf ihre Geschäfte vor allem seitens des (neuen) Staates, dem die wenigsten aus der Industrie und Hochfinanz irgendetwas zutrauten bzw. diesem ganz misstrauten, hatten. (27)      

Also, selbst wenn Rosa Luxemburg zum Zeitpunkt der Verabschiedung der WRV noch gelebt oder den Verfassungsgebungsprozess gar selbst beobachtet hätte (als eine Art sachverständige Zeitzeugin), wäre ihre Reaktion relativ vorhersehbar gewesen: Sicher strikte Ablehnung des Ergebnisses und vor allem des Verfahrens. Sie hätte den „Verfassungsvätern“ von 1919 (besonders seitens der Mehrheits-SPD) Abkehr, wahrscheinlich sogar Verrat an der (ohnehin paradoxen) Revolution vom 9. November 1918 vorgeworfen.

Sie hatte instinktiv ein Gespür dafür, ob jemand eine wirklich revolutionäre Haltung hatte oder nur über Revolution „theoretisierte“ – dies war beim „Rat der Volksbeauftragten“ spätestens nach dem Rückzug der Mitglieder der Unabhängigen SPD Ende Dezember 1918 augenscheinlich der Fall.

Die Männer um Ebert und Scheidemann (am 09.11.1918 sicher in einer schwierigen Situation und Position) waren ja schon seit Jahren in Wirklichkeit gar nicht mehr oppositionell, sondern lebten bloß noch das Gefühl von revolutionärer Gesinnung (wollten aber Verhältnisse wie in Russland um jeden Preis verhindern, daher auch die vielfältigen Kontakte zu den Vertretern des alten Systems).

Ob man es Feigheit oder bloß Opportunismus nennen kann, braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden. Für Rosa Luxemburg waren diese „Politiker neuen Typs“ bloße „Witzblattfiguren“. (28)

Daher wäre es sicherlich sehr interessant gewesen, hätte sie die Gelegenheit gehabt, im Frühjahr/Sommer 1919 auf all die Entwicklungen seit dem Untergang der Monarchie (und damit auch des Zeitalters des Imperialismus in Deutschland) publizistisch zu reagieren. Eine Überarbeitung oder Neufassung ihres Akkumulations-Buches hätte bestimmt interessante Wendungen und Interpretationen bieten können; doch ist dies, durch ihre Ermordung bedingt, natürlich reine Spekulation.

Aber um diese „kontrafaktische“ Betrachtung zumindest an einem Punkt weiterzuführen: Hätte es beim Thema „Ausgestaltung einer neuen Wirtschaftsordnung“ für die junge Weimarer Republik eventuell sogar eine Annäherung zwischen Rosa Luxemburg und Walther Rathenau geben können?

Bekanntlich war Rathenau, eigentlich Großunternehmer und ein wirtschaftsliberaler Vorzeige-Kapitalist (wofür er ja auch von „rechts“ gerne verunglimpft worden ist), im Frühjahr 1919 (besonders im Zusammenhang mit der „Münchner Räterepublik“) sehr von planwirtschaftlichen Modellen und Theorien angetan, was auch mit seiner Tätigkeit im Ersten Weltkrieg – Stichwort: „Kriegssozialismus“ – zu tun hatte.

Wie würde sich in Deutschland, spätestens nach Überwindung der Inflationszeit, das Verhältnis der Arbeiter und Arbeiterinnen zum neuen Staat entwickelt haben, wenn das, was heute gerne unter der Überschrift „Sozialpartnerschaft“ formuliert wird, konsequent umgesetzt worden wäre?

Hätte sich ein breites Bündnis von „Werktätigen“ und „sozial eingestellten“ Arbeitgebern gegen den Nationalsozialismus schmieden lassen, so dass es überhaupt keine „Machtergreifung“ (die ja letztlich eher eine Selbstaufgabe der Weimarer Republik war) Hitlers gegeben hätte?

Auch dies bleibt schlussendlich (leider) reine Spekulation; denn die hier benannten Aspiranten für eine derartige „Partnerschaft“ (Luxemburg und Rathenau) wurden beide bereits in der Frühzeit der Weimarer Republik ermordet – eventuelle Nachfolger oder „geistige Erben“ waren auf keiner Seite in Sicht.    

Was tatsächlich bleibt:

Bereits seit ihren Anfängen als politische Denkerin und Wirtschaftstheoretikerin vertrat Rosa Luxemburg eine konsequent antinationalistische und dezidiert Pro-Werktätigen-Einstellung, die weder Attitüde noch bloßes Wahlkampfgetöse gewesen ist.

Allerdings blieb auch sie alten Denkmustern verhaftet. Sie versuchte, die strukturellen Probleme einer neuen Welt und einer neuen Epoche mit Ideen, Instrumenten und Methoden der alten Welt, die sich überlebt zu haben schien, beizukommen. (29)

Dies wird besonders deutlich, wenn man ihre theoretischen Ansätze, die sie von Marx übernommen hat, und ihre Anwendungsbeispiele analysiert.

Marx hatte seine produktive Phase so zwischen 1850 und 1870; dabei nahm er für seine Thesen besonders die Merkmale der (früh-) industriellen Entwicklung in England – aus der Zeit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder noch früher. Nimmt man hierzu noch die typische Industrieform der ehemaligen Kolonien in Nordamerika (die zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei Generationen unabhängigen USA), nämlich die Plantagenwirtschaft, bestand ein großer Teil der wichtigsten Produktionsmittel (Dampfmaschinen in der Webindustrie, Eisenbahnen im Transportbereich und Plantagen für die Bodennutzung) aus relativ „immobilen“ Gegenständen bzw. Produktionsabläufen (denn auch die Eisenbahn ist auf ein Schienennetz angewiesen, das räumlich nicht beliebig verändert werden kann). Einen ähnlich „rückwärts“ gewandten Blick hatte auch Rosa Luxemburg bei ihrer Beschreibung der kapitalistischen Wirtschaftsweise.

Was eigenartigerweise fehlt, ist ein Ausblick, wie sich der Kapitalismus ändert, wenn der Faktor „Mobilität“ hinzutritt. Im selben Jahr, als Luxemburgs Akkumulationsbuch veröffentlich wurde, hatte jenseits des Atlantiks ein gewisser Henry Ford die bahnbrechende Idee, die zwar schon bekannte „Fließbandfertigung“ im Automobilbau in seiner eigenen Fabrik zu perfektionieren. Daraus entstand nicht nur sein eigener Reichtum, sondern auch rasend schnell das „Zeitalter des Automobils“.

Damit wurde der von Luxemburg thematisierte Akkumulationsprozess des Kapitals in eine ganz neue Dimension gehoben. Die Fließbandfertigung im gesamten Automobilsektor führte nicht nur zu einer ungeahnten Ausweitung der Massenproduktion, sondern durch die immense Verbilligung der Preise für Pkw. wurde eine ganz eigene Mobilitätswelle ausgelöst.

Zusätzlich wurde aber auch der Konkurrenzkampf unter den Automobilherstellern immer größer, so dass neben der neuartigen Produktionsweise noch zusätzlich weitere Industriezweige entstanden, insbesondere in der Zuliefererindustrie (kein Pkw-Konzern baut alle Teile noch selbst) und im Dienstleistungssektor (von der Werbung/Marketingabteilung bis zu Bank- und Leasinggeschäften).

Das anlagesuchende Großkapital hatte im Bereich der Massenproduktion im Automobilsektor einen dankbaren Abnehmer. Auch hier zeigte sich aber die grundsätzliche Richtigkeit der Marxschen Kapitalismustheorie: Die Produktion und das damit einhergehende Profitstreben sind die eigentlichen Triebfedern.

Denn die (künftigen) Konsumenten, sprich Käufer und Nutzer der Automobile, hatten zum Zeitpunkt der Einführung dieses Produkts noch überhaupt keine Beziehung zum Thema „Individualverkehr“; da musste erst das notwendige Interesse geweckt, also die Käuferschichten stimuliert werden.

Rosa Luxemburg hatte diese „Zeitenwende“ anscheinend nicht oder nur unzutreffend realisiert; für sie, die von dem einen oder anderen Verehrer mit dem nötigen Kleingeld tatsächlich zu sonntäglichen Ausfahrten eingeladen wurde, stellte das Automobil um 1910 nicht mehr als eine verrückte neue Erfindung dar.

Das Potential, das dieses „Spielzeug“ noch vor 1914 erlangen sollte, und auch der künftige Einfluss auf die gesamte (nicht nur westliche) Kultur war für sie damals nicht absehbar.

Insoweit war sie in den überkommenen Denkmustern und Ansätzen aus der Zeit der Immobilität verblieben – mit ihrem frühen Tod konnte sie sich auch nicht mehr näher mit dieser neuen ökonomischen Erscheinung, die mehr als eine bloße Mode werden sollte und die in Deutschland ja auch erst so richtig ab Mitte der 1920er Jahre populär wurde, beschäftigen und auseinandersetzen:

Ihre allgemeinen Aussagen über den Kapitalismus im Akkumulationsbuch hätten durchaus aktualisiert und weiterentwickelt werden können.          

Kritiker könnten ihr also vorwerfen, es unterlassen zu haben, eine Anpassung und Ausweitung ihres analytischenVorgehens vorgenommen bzw. ihre Methode einseitig angewendet zu haben. (30)

Denn offensichtlich gelang es ja dem „Kapitalismus“, auch außerhalb der klassischen Imperialismustheorien neue Märkte zu schaffen und diese fortan auch (nach altem Schema) auszubeuten.

Henry Ford z.B. musste nicht nach Afrika oder Südostasien, wie die früheren Kolonialgesellschaften, um dort billige Massenkonsumgüter abzusetzen, um im Gegenzug billige Rohstoffe zu importieren oder wie auf den Kautschukplantagen Arbeitssklaven schuften zu lassen. Bei ihm kamen die Fabrikarbeiter (zumindest ab einem bestimmten Zeitpunkt) sogar selbst mit dem eigenen Auto in die Fertigungshallen.

Das zur Zeit Luxemburgs noch als kleines verrücktes Spielzeug empfundene Automobil wurde zum Inbegriff des „Lebensstandards“ im 20. Jahrhundert.

Dieser Siegeszug des Automobils, vor allem bedingt durch die Massenproduktion, wurde zwei bis drei Generationen später noch einmal übertroffen durch die Entwicklung und Vermarktung des „Personal-Computers“ (und der damit verstärkten elektronischen Datenverarbeitung, umfassenden Automation und einer alles beherrschenden „Digitalisierung“).

Der massenhafte Einsatz der Computer-Technik in der heutigen Konsumgesellschaft manifestiert sich als neue Form der Finanz- und Kapitalakkumulation. (31)

Unscheinbar wirkende Typen („Nerds“) mit Hornbrille oder Rollkragenpulli, denen man zumindest auf den ersten Blick keine Ausbeutermanieren wie einem Henry Ford zutrauen würde, haben sich aber realiter als noch größere Kapitalisten erwiesen als die früheren Großindustriellen alter Schule.

An diesem Punkt werden Luxemburgs ökonomische Schriften plötzlich wieder aktuell:

Seit einigen Jahrzehnten eröffnet der Begriff „Globalisierung“ eine neue Projektionsfläche und wirft die Frage auf, ob das Phänomen „Globalisierung“ eine Fortentwicklung bzw. Neuinterpretation des tradierten Begriffs vom „Imperialismus“ ist oder eine ganz eigene Kategorie von Abhängigkeiten betrifft.

Wenn Rosa Luxemburg besonders im Schlusskapitel ihres Akkumulationsbuches von „Weltform“ und „Erdrund“ spricht, scheint sie einen (zumindest unbewussten) Ausblick, wenn nicht gar eine Vision auf aktuelle Entwicklungen vorzunehmen.

Im Gegensatz zum Zeitalter des Hochimperialismus Ende des 19. Jahrhunderts sind die global agierenden Großkonzerne (auch solche aus „Rot“-China) nicht mehr auf physische Abhängigkeiten in Kolonien angewiesen. Kapitalistische Wirtschaftsweise hat es geschafft, den Konsum permanent dadurch zu steigern, dass ständig neue Produkte (besonders im Bereich der „Unterhaltungselektronik“) angeboten werden, die von den Verbrauchern/Konsumenten geradezu sehnsüchtig erwartet oder aber neue Versionen für bestimmte Vorgänge, z.B. die Erstellung von staatlich vorgeschriebenen Steuererklärungen durch „Elster“, dringend benötigt werden.

Eine ausufernde Produktion, die durch ein ausgeklügeltes Marketing auf eine teilweise schon hysterische Nachfrage (Lifestyle-Produkte) stößt, welche sogar durch staatliche Vorgaben (Zwang zur Digitalisierung) oder aber vermeintliche Wirtschaftsförderung (z.B. Chip-Fabriken) flankiert werden:

War um 1900 eventuell nicht immer ganz klar, wer beim Thema „Imperialismus“ Koch und Kellner war, so ist dies im 21. Jahrhundert bei der „Globalisierung“ unzweideutig.

Der Staat als Erfüllungsgehilfe, so dürfte es auch Rosa Luxemburg empfunden und sicher besser argumentativ hervorgehoben haben, für Wirtschaftsinteressen bestimmter globaler Akteure aus „High-Tec“ und Hoch-Finanz.      

Natürlich lässt sich hier einwenden, dass Luxemburg mit ihrer bewussten Abwehr des Kapitalismus in einen Widerspruch gerät, wenn man den modernen Globalisierungseffekt näher betrachtet, zumindest wenn man den Kolonialismus als Grundlage für „Globalisierung“ definiert.

Die von Luxemburg beschriebenen Zusammenhänge haben sich offensichtlich verändert bzw. transformiert. Zum einen existieren spätestens seit der Wende bzw. des politischen Umbruchs im früheren „Ostblock“ 1989/1990 keine „nichtkapitalistischen“ Gesellschaften und Volkswirtschaften mehr; lässt man Exoten im Himalaja oder in der Südsee außen vor.

Zum anderen haben sich auch in den hochentwickelten Industrienationen keine „nichtkapitalistischen“ Enklaven erhalten (mögliche Ausnahme in den USA: die Mormonen u.ä.), so dass von einem totalen Siegeszug des Kapitalismus gesprochen werden kann. Das kapitalistische System mit seinem unstillbaren Drang nach Ausdehnung und Profit hat sich entgegen aller marxistischer Vorhersage nicht selbstzerstört, sondern immer wieder „neu erfunden“. Zumindest scheint dies oberflächlich der Fall zu sein. 

Es ist nämlich sehr wahrscheinlich, dass die globalisierte Konsum- und Überflussgesellschaft doch an die Grenzen ihres Wachstums stoßen wird, weniger weil das Profitstreben zu einem ruinösen Wettbewerb zwischen den Großkonzernen führen könnte, sondern weil der Faktor „Umwelt“ dem bisherigen Wachstumsmodell einen Strich durch die schöne Rechnung machen dürfte.

Wenn die Ressourcenverschwendung, nebst unmittelbarer Auswirkungen, dermaßen anhält, die „Grenzen des Wachstums“ (so vom „Club of Rome“ bereits vor 50 Jahren prognostiziert) unwiderruflich erreicht sein werden, braucht es entweder erneut eine „industrielle Revolution“ (dann die vierte oder fünfte) oder die tradierte Kapitalismusdoktrin hat sich dann endgültig überlebt.

Diese weit in der Zukunft liegenden Faktoren bzw. Ursachen waren für Rosa Luxemburg allerdings 1912/ 1913 keinesfalls absehbar, so dass auch ihr Akkumulations-Buch unter diesem Manko leidet. Wie bereits angedeutet, kann man ihr ankreiden, sie habe versucht, den Anfang des 20. Jahrhunderts neuartigen Wirkmechanismen des Kapitalismus mit alten Methoden bzw. Erklärungsmustern aus dem 19. Jahrhundert beizukommen. Trotzdem sind viele ihrer Annahmen und Prognosen nicht gänzlich abwegig gewesen.

Vor allem hat sich auch bei den völlig neuartigen „modernen“ Arbeitsbedingungen ein Charakterzug kapitalistischer Wirtschaftsform erhalten bzw. neu gestaltet: Die Belastung (heute weniger körperlich, mehr psychisch) der Arbeitnehmer steht oft in keinem Verhältnis zu ihrer „Vergütung“, oft – besonders im „globalen Süden“- grenzen die Beschäftigungen und Tätigkeiten an Selbstausbeutung.

Und auch im „reichen Norden“ müssen viele Arbeitsbedingungen als inhuman bezeichnet werden; wenn nicht „dank“ exzessiver Automatisierung ganze Branchen wegrationalisiert wurden und damit Millionen von Arbeitsplätzen auf nimmer Wiedersehen verschwanden und dadurch (Stichwort „Strukturwandel“) zahlreiche soziale Milieus zerstört wurden.

Ein Schlusssatz zu einem Beitrag über Rosa Luxemburg als Wirtschaftstheoretikerin könnte daher (im Lichte des Jahres 2023 und auch schon für 2024) lauten: Luxemburgs zentralen Ansatz im Akkumulationsbuch „vom Kopf auf die Füße stellen“ und damit an die Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts anpassen.

Autor: Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker

 

Anmerkungen

1) Es gab Zeiten in der „alten“ BRD, da hätte ein Autor, der die beiden Todesfälle „Karl Liebknecht“ und „Rosa Luxemburg“ als politischen Mord bezeichnet und dies so veröffentlicht hätte, mit freundlicher Behandlung des Staatsschutzes (Teil der politischen Polizei) oder gleich des jeweiligen Landesamtes für Verfassungsschutz rechnen dürfen. Dies hatte folgenden Hintergrund: Als 1962 der Anführer des Mordkommandos vom Januar 1919, der schon längst demissionierte, aber immer noch auf seinen „militärischen Rang“ als Hauptmann bestehende Waldemar Pabst, zum wiederholten Male seine höchst einseitige und verzerrte Sicht der Ereignisse im westdeutschen Boulevard zum Besten gab, ohne natürlich dabei die Erwähnung seiner besonders patriotischen Einstellung zu vergessen, hatte sich die damalige Bundesregierung unter Adenauer nicht entblödet, Pabsts „Deutungshoheit“ zu übernehmen und damit abzusegnen, indem das Bundespresseamt im Falle von Liebknecht/Luxemburg von standrechtlichen Erschießungen im Zusammenhang mit dem wirksam Anfang Januar 1919 über Berlin verhängten Kriegsrecht gesprochen hat, so in einem offiziellen Bulletin im Februar 1962.

Die von der damals noch lebenden Witwe Liebknechts gegen diese Ungeheuerlichkeit eingelegte Strafanzeige wurde von der Münchner Staatsanwaltschaft nicht mit der gebührenden Sorgfalt bearbeitet (ganz anders bei radikalen „Klimarettern“ seit 2022) und schlanker Hand eingestellt; die gegen die Untätigkeit der doch vor allem in Bayern besonders demokratisch legitimierten Strafverfolger gerichtete Beschwerde von Liebknechts Witwe wurde dann ebenfalls lapidar von der Münchner Generalstaatsanwaltschaft abgebügelt, siehe die Darstellung bei Nettl, S. 734 besonders Fn 92.

Dieser Vorgang unterstreicht gleich zwei eigenartige Besonderheiten in der alten BRD: Alles was auch nur ansatzweise als Kritik an staatlichen Stellen (selbst wenn es um die im Januar 1919 augenscheinlich noch monarchistisch indoktrinierte deutsche „Soldateska“ ging, von denen einige direkt noch im Frühjahr 1919 zur „Brigade Ehrhardt“ und dann in die „Organisation Consul“ wechselten und dort ein Sprungbrett in Nazi-Organisationen fanden) bewertet werden konnte, galt als „Demaskierung des Staates“ und musste zwingend unterbleiben – erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre verschob sich hier die öffentliche Wahrnehmung (wenn auch nur langsam).    

Und zum zweiten war natürlich der kalte Angstschweiß der konservativen „Regierungs- und Verwaltungselite“ Westdeutschlands mit Händen greifbar. Besonders die heftige Kritik von Liebknechts Witwe, ausgerechnet eine geb. Russin, und anderen Unterstützern aus dem sozialistischen Umfeld an Pabst und den Regierungsstellen im Januar 1919 galt als direkte Anweisung aus Ost-Berlin: die ostdeutschen Kommunisten als Drahtzieher für bösartige Unterstellungen und Verunglimpfungen „guter Deutscher“ (heute: auch als Verschwörungstheorien bekannt) – Schön einfach, aber auch schön blöd!

Keine zwanzig Jahre später hat der bayrische Ersatzkönig Franz Josef ab Anfang der 1980er selbst direkt mit dem Erzfeind im Friedrichspalast verhandelt (und rauschende Nächte verbracht). Doppelzüngigkeit und Opportunismus sind in höchsten Stellen der Bayrischen Staatsregierung bis heute tief verwurzelt, was die Causa „Aiwanger“ bestens unterstreicht. 

2) Obwohl mit den Namen „Spartakusgruppe“ und „Spartakusbund“ eng verbunden, hatte Rosa Luxemburg bei dieser konkreten Namensgebung wenig direkten Einfluss, da sie 1916/17 – als sich die ursprüngliche Gruppe Internationale stärker organisierte – immer noch den „all-inclusive-Service“ der kaiserlich-deutschen Strafvollstreckungsbehörden in Anspruch nehmen durfte.

Die Frage der Rechtmäßigkeit ihrer langen Inhaftierung kann an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden (so gab es zwar gleich zu Kriegsbeginn ein „Amnestiegesetz“, das wohl auch ihre „Bestrafung“ aufgehoben hätte, doch Rosa Luxemburg hatte scheinbar einfach „Pech“, dass sie nach Verbüßen der offiziellen Gefängnisstrafe von einem Jahr praktisch nahtlos in sog. Sicherheitshaft gesteckt wurde und sie zu diesem Zeitpunkt den „Mehrheitssozialisten“ um Ebert u. Scheidemann reichlich egal war; vgl. auch Ullrich, S. 453). Selbst die Oktober-Amnestie 1918 ging zunächst einfach an ihr vorüber; erst Wochen später wurde auch sie dann endlich entlassen.

Wenigstens gab es unter den weiblichen „Schließern“ doch eine gewisse Anteilnahme: ihre medizinischen Beeinträchtigungen wurden im Rahmen des Möglichen berücksichtigt, ihr Hofgang respektiert und es war immer genug Papier für ihre ausführliche Privatkorrespondenz vorhanden – ein Segen bis heute, da nahezu alles, was Rosa Luxemburg irgendwann zu Papier gebracht hat, ist auch irgendwo überliefert worden.

3) Veröffentlicht wurde diese Schrift im Paul Singer Verlag, der auch das offiziöse SPD-Parteiorgan „Vorwärts“ herausbrachte. Sie war zwar kurzzeitig sogar einmal als Redakteurin für diese Zeitung tätig, doch die meiste Zeit hatte Luxemburg mit diesem Blatt wenig zu tun gehabt, da sie als politische Schriftstellerin/Autorin/Redakteurin immer irgendwie auf Kriegsfuß mit dem Parteiblatt stand – was auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber es war der zumindest vor 1914 noch wohlklingende Name von Paul Singer, der Luxemburg beim Verlag die Tür öffnete und als Medium diente. Mit dem Erscheinen der „Roten Fahne“ war das Tischtuch zwischen den ins Regierungslager gewechselten „Mehrheitsgenossen“ und den Abweichlern um die Spartakusgruppe endgültig zerschnitten und man war sich spinnefeind. Langjährige persönliche Kontakte waren ab 1918 völlig ausgelöscht.    

4) Nettl, S. 19.

5) Zitiert nach Nettl, S. 21 mit weiteren Nachweisen.

6) Viele dieser Thesen u. Forderungen, die Luxemburg in ihrer Dissertation bzw. ihre Mitstreiter in der SDKP aufstellten und veröffentlichten, sind natürlich nur aus der Zeitgebundenheit Ende des 19. Jahrhunderts und den spezifischen Umständen zu verstehen. Als nach dem Untergang der drei Kaiserreiche, die das gesamte „alte“ Polen unter sich aufgeteilt hatten, bereits ab November 1918 ein ganz neuer politischer Wind in Ost-Mittel-Europa zu wehen begann und die neue Republik Polen nach dem Willen der siegreichen West-Alliierten Teil einer Pufferzone werden sollte (sog. Cordon sanitaire), wurden auch wirtschaftspolitisch völlig andere Prioritäten gesetzt; die alten revolutionsgeschwängerten Parolen aus der Zeit vor 1914 hatten ausgedient. Polen sollte wie die Mehrzahl der aus der Konkursmasse Österreich-Ungarns hervorgegangenen Mittelstaaten ein Bollwerk gegen den Sowjet-Bolschewismus repräsentieren; die volkswirtschaftlichen Besonderheiten aus der Vorkriegszeit mussten zurückgestellt werden. Aus der Sicht des Jahres 2023 sind die damaligen ideologischen Streitigkeiten u. Grabenkämpfe letztlich völlig unverständlich. Mit dem Untergang der UdSSR und der Errichtung einer postkommunistischen Autokratie im Kreml haben sich ganz andere Fragestellungen ergeben – doch das „Meta-Thema“ Imperialismus ist erstaunlicherweise immer noch aktuell (in neuen Spielarten, wenn auch immer noch fast auf dem gesamten afrikanischen Kontinent), auch wenn viele Schmalspur- Außenpolitiker dies kaum zu überblicken scheinen.    

7) Zum gesamten Zusammenhang s. bei Radek.

8) Nettl S. 794.

9) Dito; da Marx in seinen eher volkswirtschaftlichen „Spekulationen“ oft unklar blieb (so dass die Nachwelt alles und nichts aus diesem Teil seines Werkes herauslesen konnte), ist für die Bewunderer seines soziohistorischen Sujets angeraten, nicht zu viel Zeit/Energie mit den ökonomischen Theoremen zu verwenden – stattdessen Milde walten zu lassen. Im Gegensatz zu Plato oder auch Aristoteles hat Marx als Philosoph tatsächlich ein „Regierungsprogramm“ konzipiert, das immerhin drei Generationen umsetzten – den ollen Griechen gelang dies realiter niemals. Die Fehler bei der Einrichtung/Umsetzung der „Diktatur des Proletariats“ sollen an dieser Stelle nicht unter den Teppich gekehrt werden, doch selbstsüchtige Epigonen (Lenin) oder gar völlig amoralische Gestalten (Stalin) konnte der Mann aus Trier nun wirklich nicht antizipieren (hätte er länger gelebt, wären ihm vielleicht einige vermeidbare Fehleinschätzungen aufgefallen). Vielleicht fehlte es ihm auch an ausreichend „feedback“ aus seiner deutschen Heimat:

Mit Lassalle hatte Marx immer seine Schwierigkeiten, so dass der „Allgemeine Dt. Arbeiterverein“ auch nicht sein Projekt werden konnte; die späteren sozialdemokratischen Partei-Organisatoren (hier sind natürlich Bebel und W. Liebknecht besonders zu erwähnen) hatten auch nie so richtig Marx (und Engels) als Galionsfiguren gewinnen können, statt dessen war immer eine gewissen Distanz zu spüren; und die besonders auf Marxens Einfluss beruhende „Erste Internationale“ ging bereits Mitte der 1870er Jahre wieder auseinander. Wer hätte dies auch praktisch aufhalten sollen?     

10) Davon abgesehen, dass nach dem aktuellen Ausländer- u. Aufenthaltsrecht das Eingehen einer Schein- ehe für beide Teile eine Straftat darstellt und die Einreise in den Geltungsbereich des „Schengen-Abkommens“ aufgrund falscher Tatsachen erfolgt und der Aufenthalt somit illegal ist (wegen der aktuellen Diskussionen zum Thema „illegale Migration“ soll dies hier kurz angesprochen werden), ist es doch interessant, festzustellen, dass auch bereits vor über 125 Jahren ähnliche Konstellationen vorhanden waren.

Das wirft ein bezeichnendes Licht auf den Aspekt „Bekämpfung von Fluchtursachen“; bei Rosa Luxemburg war dies eindeutig die Furcht vor politischer Verfolgung im Zarenreich. Eigentlich auch ein „klassischer“ Asylgrund; doch wie ist der Fall zu werten, wenn daneben auch „wirtschaftliche“ Gesichtspunkte reinspielen? Oft lässt sich echte politische Verfolgung und der Wunsch nach materieller Verbesserung nur schwer trennen – man braucht nur wenig Phantasie, sich aktuell ein Szenario vorzustellen, wo in bestimmten Bundesländern (z.B. südlich des Mains) einer Rosa Luxemburg im Jahre 2023 die politische Verfolgung abgesprochen werden würde (in diesem Beispiel müsste sie russische Staatsbürgerin sein, was sie ursprünglich ja auch war; wäre sie polnische Staatsbürgerin, hätte sie Anspruch auf Freizügigkeit als EU-Bürgerin – aber dabei handelte es sich doch um die gleiche Person). So absurd kann auch 120 Jahre später noch die reale Situation sein.

Bei Rosa Luxemburg wäre nach aktueller Rechtslage aber auch die Variante eines „Arbeitsvisums“ denkbar; denn immerhin könnte sie als politische Journalistin akkreditiert sein oder einen Lehrauftrag an einer Hochschule vorweisen.   

11) Vgl. im Zusammenhang bei Nettl, S. 374 – 379.

12) Dito, S. 379.

13) Nettl, S. 507f.

14) Vgl. hierzu Nettl, S. 508.

15) Nettl, S. 508f.

16) Im Zusammenhang bei Mommsen, S. 19. Der besonders in marktradikalen Kreisen des in Deutschland beliebten „Neo-Liberalismus“ auch heute noch verehrte Naumann war ja nicht nur lange Mitglied im Reichstag, sondern auch publizistisch tätig; der Name seiner Bewegung „Nationalsozialer Verein“ zeigte bereits zwanzig Jahre vor Gründung der „Deutschen Arbeiterpartei“ (DAP) durch Anton Drexler im Januar 1919, welche Strömungen am rechten Rand vorhanden waren.  

17) Siehe Nettl, S. 509. Für Luxemburg war der Imperialismus als politische wie soziale Tatsache derart real, so dass man über solch „notorische“ Tatsachen kein Wort des Nachweises verlieren brauchte; dies mag in der völlig konträr gelagerten Situation im 21. Jahrhundert allerdings anders sein (heute wäre eine nähere Begründung für viele Zeitgenossen sinnvoll, sofern sich überhaupt noch jemand mit solchen Fragen beschäftigt).  

18) Vgl. im Zusammenhang: Barraclough, S. 705 – 714.

19) Zitiert nach Nettl, S. 517 u. S. 523.

20) Nettl, S. 796f.

21) Ders., S. 797 – 799.

22) Ders., S. 801f.

23) Vgl. bei Nettl, S. 802f., dort Anm. 22. Auch im 21. Jahrhundert gilt: der globale Norden wird in Summe immer reicher, die Länder des globalen Südens immer ärmer. Keine wirklich neue Erkenntnis, aber die seit bald 150 Jahren bekannten Ursachen werden weiter ausgeblendet und ignoriert.

24) Vgl. Nettl, S. 805.

25) Die vorstehenden Zitate finden sich im letzten Kapitel, s. Luxemburg, S. 398, 408 u. 410f.

26) Dies., S. 411. Auf den letzten Seiten ihres Buches erfolgen kaum noch formelhafte Ableitungen; Luxemburg argumentiert in besagtem Kapitel insgesamt mehr „politisch“ denn volkswirtschaftlich. Dies kann ihre Gegner zum Vorwurf veranlassen, sie verwechsle Ideologie mit wissenschaftlicher Theorie. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass schon bei den grundsätzlichen Fragestellungen nur wenig Einigkeit über die jeweiligen Bedeutungsinhalte besteht. Wie sind z.B. die exakten Kriterien zwischen Kolonialismus und Imperialismus zu unterscheiden. Liegt nur ein „einfaches“ Stufenverhältnis vor oder müssen bestimmte „qualitative“ Merkmale (wie z.B. hoher Kapitaleinsatz oder auch die „Rationalisierung von Herrschaft“) vorhanden sein und wie stark ausgeprägt? Außerdem gibt es rein zeitliche Aspekte, die zu verschiedenen Auffassungen führen können. So war der Ausbau der englischen Kolonialherrschaft z.B. in Indien Mitte des 19. Jahrhunderts anders gelagert als die Errichtung der ersten Kolonien des deutschen Kaiserreichs.       

27) Vgl. in diesem Zusammenhang bei Apelt, S. 358.

28) So Nettl, S. 38. Bezeichnend ist auch Luxemburgs Einstellung und ihr Kommentar zum „Reichsrätekongress“ Mitte Dezember 1918 (ursprünglich als Organisation des revolutionären Proletariats gedacht). Nur eine verschwindend geringe Anzahl der dort versammelten Delegierten gehörten dem Spartakusbund an; Rosa Luxemburg wurde dort jeder Auftritt von der Mehrheits-SPD verwehrt. In einem Artikel brandmarkte sie das „Regime Ebert-Scheidemann“ als Machenschaften der Gegenrevolution mit dem Ziel der Hetze gegen die Arbeiter- u. Soldatenräte und eines groß angelegten außenpolitischen Schwindels. Ihrer Meinung nach wurde seitens der Mehrheits-SPD ein Schreckgespenst aufgebaut, wonach unmittelbar ein Einmarsch der Siegermächte bevorstand, um die oppositionellen Räte gefügig zu machen. Im Hintergrund hätten die Kräfte des alten Regimes weitergewirkt (Anspielung auf den Ebert-Groener-Pakt), die bereits wenige Wochen nach dem 9. November 1918 die öffentliche Meinung wirksam beeinflussten. Ob alle Punkte, die Luxemburg in ihrer Stellungnahme mit teils harrschen Worten kritisierte, vollumfänglich zutrafen, kann hier nicht entschieden werden; doch ihr Aufruf: „Alle Macht den Räten“, hat die Zauderer um Ebert-Scheidemann doch gehörig genervt. Die weitere Entwicklung ab Anfang Januar 1919 vertiefte nur die unüberwindbaren Gräben zwischen ihr und dem einseitig umgeformten „Rat der Volksbeauftragten“; daher ist es sicher nicht unwahrscheinlich, dass die Behauptung Waldemar Pabsts zutrifft, es habe am Abend des 15.01.1919 ein Telefonat mit der Reichskanzlei gegeben und dabei sei die Ermordung Luxemburgs (und Liebknechts) „abgesegnet“ worden, siehe auch Anmerkung 1).       

29) Vgl. das Resümee bei Nettl, S. 53 (ihr aufopferungsvolles Wirken als Versuch, den Problemen einer neuen Welt mit den hergebrachten Methoden und Instrumenten der alten Zeit beizukommen).

30) Vgl. hierzu bei Schmidt.

31) Eine Entwicklung, die den Pionieren der „Computertechnik“, wie z.B. Joseph Weizenbaum, höchst zuwider sein musste.

 

Literatur

Apelt, Willibalt: Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl., München 1964.

Barraclough, Geoffrey: Das europäische Gleichgewicht und der neue Imperialismus, in: G. Mann (Hg.), Propyläen Weltgeschichte, Band 8, Das neunzehnte Jahrhundert, Frankfurt/M. 1960, S. 704-739.

Luxemburg, Rosa: Die Akkumulation des Kapitals – Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des          Imperialismus, Verlag: Buchhandlung Vorwärts Paul Singer GmbH, Berlin 1913. (Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin/DDR 1975, S. 5-411.) 

Mommsen, Wolfgang J.: Das Zeitalter des Imperialismus, Fischer Weltgeschichte Bd. 28, Frankfurt/M.1969.

Nettl, Peter: Rosa Luxemburg, aus dem Englischen v. Karl Römer, dt. Lizensausgabe Frankfurt/M. u.a.1968.

Radek, Karl: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, Broschüre v. 1921 (im Internet unter): Karl Radek: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches (Rosa Luxemburg) (marxists.org)

Schmidt, Ingo: Kampf der Giganten – Von streitbaren Imperialismustheorien, im Internet: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/streitbare-imperialismustheorien/

Ullrich, Volker: Die nervöse Grossmacht 1871–1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs, Frankfurt/M. 2013 (erweiterte Neuausgabe).


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